Impuls zur Fastenzeit: Vater unser - Unsere Versuchung

Den Teufel im Nacken? Vom Satan besessen? Von der Schlange verführt? Nein! Bitte nicht diese alten Sachen: Paradiesesgeschichten und Bühnenklamauk. Nicht die Naschereien der Kleinen, nicht die Schleckereien der Großen. Nicht all die Alltagsversuchungen im Moralkatalog des Wohlstandsbürgers! Versuchung – nichts Ernsthaftes oder Bedrohliches? Nur eines der alten abgegriffenen Worte, denen niemand mehr Glauben schenken kann oder will?

 

Neue Töne

Auch für betende Christen ist die Vaterunserbitte "Führe uns nicht in Versuchung" nicht leicht zu verstehen. Wer versucht uns und wozu? Wenn schon nicht mehr der Teufel, etwa Gott selbst, an den sich ja die Bitte richtet? Der gute Gott kann nicht zum Bösen verleiten. Eine angemessene Übersetzung lautet deshalb: "Lass uns nicht in Versuchung geraten!" Luther spricht gern von Anfechtungen. Lass uns nicht im Glauben erschüttert werden! Denn Versuchung betrifft das, was uns vom Glauben an den biblischen Gott abbringen will, unsere Treue zu ihm infragestellt und die Festigkeit unserer Gottesbeziehung erprobt. Sie ist stets bedroht und scheint heute fast flächendeckend zu bröckeln.

 

Der seiner selbst bewusste Zeitgenosse gibt sich aufgeklärt und lebt jenseits des alten gläubigen Denkrahmens. Er horcht nach Innen und möchte authentisch sein, seine Potentiale entdecken und seiner Berufung folgen. Seine Gewissensfragen lauten: Kenne ich den Auftrag meines Lebens? Lasse ich mich schnell abbringen von meiner eigenen Lebensspur? Gerate ich durch kurzfristige Erfolge auf Nebengleise? Falle ich auf vordergründigen Glanz herein oder einen Machtzuwachs, der nicht zu mir passt? Lasse ich mich zu sehr von anderen bestimmen, vom Blick nach außen?

 

Versuchungen auf hohem Niveau. Lebensträume, die sich nur wenige leisten können. Geradezu provozierende Fragen angesichts existentieller Lebensnöte derer, die nur einen Job suchen.

 

Lebe ich mein Leben oder lebe ich an mir vorbei? Diese Überlegungen bewegen jedoch immer mehr Menschen unserer Gesellschaft. Oder: Was in mir hindert mich daran, mehr zu wagen und nicht immer nur den leichteren Weg zu wählen? Erliege ich der Versuchung, mich hängen und gehen zu lassen und nichts aus mir zu machen, obwohl ich es könnte? Angst, Antriebsschwäche, Lustlosigkeit und seelische Trägheit – warum?

 

Tun, was man kann

Die letzten Überlegungen führen scheinbar weg von der Vaterunserbitte. Der Jakobusbrief fragt: "Was nützt es, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke" (2,14). Und: "Wer also das Gute tun kann und es nicht tut, der sündigt" (4,17). Mit der Versuchung zum Glaubensabfall kommt auch die Versuchung zum "Nichtstun". Heute sagen wir "nicht mehr Praktizieren", also sein "Glaubenspotenzial" nicht mehr zu entfalten oder seine Gottes- und Menschenbeziehung nicht mehr zu kultivieren.

 

Auch Christen sind in der Versuchung, sich gehen zu lassen und im biblischen Sinne nicht mehr an sich zu arbeiten. Wir sind als Jünger(innen) dazu berufen, uns mit den Kräften einzubringen, die uns geschenkt sind: "Jeder trägt mit der Kraft, die ihm zugemessen ist" (Eph 4,16). Dann folgen wir dem Auftrag Jesu.

 

Wir erleben jedoch, wie uns ständig "Kräfte und Mächte" daran hindern, diesen Dienst zu tun und diesen Auftrag zu erfüllen. Wir verweigern uns unserer Sendung, wenn wir nur "nach Menschenart" denken und handeln. Jemand sprach von der "Verbürgerlichung der Nachfolge", wenn das Eigene, unser Eigensinn und unsere Erdschwere wichtiger (gewichtiger) werden als die Frage, was Jesus von uns will.

 

Versucht wie wir

Auch er hat – wie die Evangelien übereinstimmend bezeugen – die menschliche Versuchung erlebt, seiner göttlichen Bestimmung untreu zu werden (Mt 4,1-11, par).

 

Die souveräne Art, mit der er seinem Gegenspieler begegnete, zeigt, dass er wie kein anderer die Bewährungsprobe bestanden hat. Es gelang nicht, seine außerordentliche Gottverbundenheit zu stören oder aufzubrechen. Auch bei ihm, dem Sohne Gottes, setzt der Versucher dort an, wo der Mensch in seinen herausragenden Fähigkeiten oder bei seinen besonderen Wünschen ansprechbar ist – gerade in Zeiten der Mutlosigkeit, Schwäche und inneren Leere: Wüstenzeit! "Wenn du der Sohn Gottes bist ...?"

 

Jesus erlebt einen Angriff auf seine göttliche Sendung. Er muss sich als Sohn Gottes bewähren. Dabei wird er angesprochen auf elementare menschliche Strebungen nach Macht und Geltung, Besitz und Genussgier: Steine zu Brot machen oder absolute zu Macht haben ist "Sache" des himmlischen Vaters. Die Versuchung lautet: Handle – wie er!

 

Jesus demonstriert aber seine Treue zu ihm und zugleich seine eigene Macht über den Versucher. Er überwindet alles Dämonische. So sah ihn die junge Gemeinde. So sah er in einer bizarren Szene auch sich selbst, wenn er bekennt: "Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel stürzen" (Lk 10,18).

 

Er hat dem "Teufel" keinen Raum gegeben. Dämonenaustreibungen wurden zum Wahrzeichen seiner Reich-Gottes-Praxis. Er hat seine Gottverbundenheit nicht zerbrechen lassen. Wo und wenn wir unseren Glauben und unsere Zugehörigkeit in mancherlei Herausforderungen verleugnen, unterminieren wir unsere Gottesbeziehung.

 

Deshalb bitten wir: Lass uns nicht in diese Versuchung geraten. Sie ist der schleichende Beginn eines Glaubensabfalls. Im Rahmen der endzeitlichen Sendung Jesu ("eschatologischer Kontext") verweisen viele Interpreten des Gebetes auf die Radikalität der Entscheidung zur Zeit Jesu und am Anfang der Kirche: Für oder gegen den Heilbringer, Glaube oder Unglaube, Heil oder Unheil  hieß die Alternative. Versuchung betraf nicht Einzelsünden oder Kleinigkeiten des Alltags.

 

Leben in der Zwischenzeit

Wir stehen heute nur selten vor diesem radikalen Entweder-Oder der Frühzeit, einer Zeit der Verfolgungen, in der Gemeinden unter dem "Glaubensabfall" einzelner zu leiden hatten. Das Kommen des Reiches Gottes verschiebt sich für uns auf ein undefinierbares und ungreifbares Ende in einer nebulösen Zukunft. Wir glauben, in einer "Zwischenzeit" zu leben, die sich bis ins Unendliche dehnt.

 

Lautlose Abkehr in aller Stille heißt unsere Versuchung zum Glaubensabfall. Dazu ein Gewissen "nach eigener Facon": Eine leise, unauffällige Distanz, mit der wir uns zeitweise oder endgültig innerlich von der Heiligkeit und Verbindlichkeit unseres Gottes verabschieden. Ein vorgeschobenes Argument ist häufiger der Hinweis auf "die Kirche" und ihre "Unglaubwürdigkeit".

 

Nicht die großen "pädagogischen Belastungsproben" (v. Rad) in der Wüste oder die Herausforderungen durch persönliche Leiden nagen in der Regel am Fundament unseres Glaubens. Das "einfach Dahinleben", Gottvergessen und nicht mehr "Praktizieren" sind typisch für die gegenwärtige Glaubenserosion.

 

Schon sehr früh warnt Paulus die Christen in Korinth:

Wer zu stehen meint, der gebe acht, dass er nicht fällt. Noch ist keine Versuchung über euch gekommen, die den Menschen überfordert. Gott ist treu; er wird nicht zulassen, dass ihr über eure Kraft hinaus versucht werdet (10,12.13).

 

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Text: Dr. Hermann-Josef Silberberg | Foto: Michael Bönte, Kirche+Leben